Digitale Kompetenzen im Fundraising – Interview mit Professor Tom Neukirchen

Unsere Wirtschaft befindet sich in der Transformation. Die damit einhergehende Digitalisierung – insbesondere von Prozessen – ist bereits in vollem Gange, hinkt aber in Deutschland deutlich hinterher. Wir haben Professor Tom Neukirchen, Gründer der Agentur www.fundgiver.de gefragt, was er zum Thema Digitalisierung zu sagen hat und wo er noch Optimierungsbedarf sieht. Professor Neukirchen ist Fundraising-Berater und hat mehrere eigene Branchen-Studien veröffentlicht, darunter eine zur Zukunft von CRM-Lösungen und mehrere zu Personalkompetenzen, eine davon gemeinsam mit Talents4Good.

HR- und Szene-News: Digitalisierung ist in aller Munde, auch NPOs stehen vor diesen riesigen Herausforderungen, worum geht es bei diesem Schlagwort Ihrer Meinung nach genau?

Tom Neukirchen: Wir müssen uns zunächst klar machen, was Digitalisierung eigentlich bedeutet. Digitalisierung ist ein Prozess – und der hat idealerweise auch ein Ende, nämlich dann, wenn sämtliche Informationen einer Organisation digital erfasst, gespeichert und verarbeitet werden, d.h. analoge Brüche vermieden werden. Es gibt ja keine NPO mehr, die rein analog arbeitet. Das Problem liegt heute ja eher an den Schnittstellen unterschiedlicher, häufig bereits digitaler Systeme. Ich kenne beispielsweise eine Kinderschutzorganisation, die hat noch vor fünf Jahren digital eingegangene Patenschaftsanträge ausgedruckt und manuell in ein CRM-System eingegeben. Und digitale Bilder von Kindern wurden im Projektland erst ausgedruckt, nach Deutschland als physische Akte übersandt und dann in Deutschland wieder eingescannt. So etwas kostet viel Zeit und Geld und ist zudem sehr fehleranfällig. Die Digitalisierung bietet die Chance, die Arbeit von NPOs zu beschleunigen, die Qualität zu steigern, Kosten zu reduzieren und zugleich mehr Transparenz und Partizipation zu bieten. Aber die Digitalisierung selber fordert von einer NPO einmalig sehr viel zusätzliche Ressourcen. Manche NPO ist damit überfordert. Das ist das Dilemma in der Praxis, denn die Theorie ist allen Beteiligten klar. 

HR- und Szene-News: Was bedeutet das für das Personal von NPOs?

Tom Neukirchen: Eine Organisation ohne Personal ist tot. Erst Personal haucht der Organisation Leben ein und kann Veränderungen bewirken. Personal ist also der Schlüssel zum Erfolg der Digitalisierung. Das Personal braucht dafür aber digitale Kompetenzen – und die Führung von NPOs braucht vermehrt die Kompetenz, Menschen für diesen großen Veränderungsprozess zu motivieren – und muss den riesigen Prozess planen und managen können. Lassen Sie mich beides kurz erläutern. Fangen wir bei der Führung an.

Die Führung einer NPO braucht den Mut und die Kraft, solche Prozesse anzugehen. Allzu häufig habe ich das Gegenteil erlebt. Ein Beispiel: Wir alle wissen, dass die Einführung eines neuen CRM-Systems, häufig die Basisinvestition in die Digitalisierung, viel Kraft kostet, die Kosten explodieren können, es doppelt so lange brauchen kann wie geplant und zum Schluss sogar völlig scheitern kann, d.h. dass man remigrieren muss zum alten System, aber Hundertausende Euro verbrannt hat und die Mitarbeitenden ausgelaugt und demotiviert sind. Viele Verantwortliche haben wegen dieses Risikos diese Prozesse allzu gerne ihren NachfolgerInnen überlassen, und die wiederum ihren NachfolgerInnen – bis es nicht mehr anders ging.

Alle wollen Digitalisierung, aber wenige wollen sie verantworten und umsetzen. Es gab also, platt gesagt, eine Feigheit der Führung vor dieser Aufgabe. Manche Geschäftsführung und Abteilungsleitung ist ehrenvoll in den Ruhestand verabschiedet worden – und hatte es ganz und gar nicht verdient. Ohne Namen nennen zu wollen:  Schauen Sie sich heute einfach rückständige NPOs in Sachen Digitalisierung an – und wer für sie in den letzten 15 Jahren verantwortlich war!

Andere haben sich immerhin mutig genug der Aufgabe gestellt, waren aber schlichtweg damit überfordert. Es sind da auch viele verdiente Fachkräfte nach dem Peter-Prinzip bis zur Unfähigkeit befördert worden in Positionen, deren Anforderungen sie nicht mehr gerecht werden konnten. Und das ist natürlich nicht allein ihre Schuld, sondern auch die der vorwiegend ehrenamtlichen Aufsichtsgremien, die sie bestellt haben. Kurzum: eine notwendige Bedingung einer erfolgreichen Digitalisierung ist es, dass die Aufsichtsgremien von NPOs mutige und fähige Change-Manager in der Führung installieren. Das sind dann eben häufig nicht die netten, verdienten Mitarbeitenden, die man bereits seit Jahren kennt. Bei der externen Suche und Vermittlung geeigneter Führungskräfte ist die Branche dringend auf externe Beratung angewiesen.

Alle wollen Digitalisierung, aber wenige wollen sie verantworten und umsetzen.

Professor Tom Neukirchen

Kommen wir zur hinreichenden Bedingung für erfolgreiche Digitalisierung: das Personal jenseits der Führungskräfte.

Vor 25 Jahren hat man schon in Stellenanzeigen gute Kenntnisse gängiger Office-Programme wie Word, Excel, Outlook, PowerPoint gefordert. Ich bin überrascht, dass das heute teilweise noch in Stellenanzeigen explizit steht. Das ist irre, das gehört für mich heute zur digitalen Alphabetisierung dazu, als selbstverständlicher Standard, das muss man nicht mehr explizit fordern! Das sagt viel über die Verfasser der Stellenanzeige aus und schreckt qualifizierte Bewerbende ab.

Wir brauchen heute so viel mehr: Vertrautheit und grundlegende Kenntnis von CRM-Systemen, Datenanalysen, digitale Prozessgestaltung, Programmierung und Kommunikation via Social Media. Letztendlich ein digitales Mindset – und das haben heute nicht alle Mitarbeitende in NPOs.

Was wir daher brauchen, ist ein kompetenzorientiertes Personalmanagement. NPOs betreiben ja keine Hire-and-Fire-Personalpolitik, im Gegenteil: sie sind meist sehr treue und fürsorgliche Arbeitgebende. Deswegen dauert aber auch der notwendige Kompetenz-Wandel beim Personal länger: Es wird viel Personal geschult und weitergebildet und im Vergleich wenig neues angestellt. Das mag menschlich und als moralischer Anspruch richtig sein, aber es kostet auch viel Zeit in Bezug auf Digitalisierung. Außerdem braucht die Branche Impulse von außen, von neuen Mitarbeitenden, die Digitalisierung schon positiv erlebt haben. Da ist die Profit-Welt uns einige Jahre voraus. Aber diese Mitarbeitende, die den Wandel aktiv mitgestalten können, sind teuer, z.B. Marketing-Automation-ExpertInnen oder DatenanalystInnen. Sie sind so teuer, dass sie das Gehaltsgefüge sprengen. Sie fordern unwissend teilweise mehr Gehalt, als Geschäftsführende erhalten – und blitzen ab.

Aber der Verzicht auf digitalen Kompetenzen bringt gravierendere Probleme mit sich: die mangelnde Zukunftsfähigkeit der gesamten Organisation. Denn der Markt wartet nicht auf Nachzügler. Im Gegenteil: Er straft ab! Heutige Spender und die der nächsten Generation erwarten digitale Prozesse, digitale Geschwindigkeit, digitale Transparenz und mehr digitale Partizipation.

HR- und Szene-News: Was können Personalberatungen im Prozess der Digitalisierung leisten?

Tom Neukirchen: Ich sehe die spezialisierte Personalberatungen in der Pflicht, hier wachzurütteln, insbesondere bei drei Aspekten:

  • Erstens: Aufsichtsgremien beraten bei der Auswahl des Führungspersonals. Das Problem ist, dass diese Gremien häufig selber nicht das verstehen, wollen und können, worum es in Zukunft zuvorderst geht: Digitalisierung! Und die Aufsicht darf sich nicht mit der Auswahl begnügen, sondern muss diesbezügliche meines Erachtens Fortschritte sogar fortlaufend überwachen. Die Aufsicht darf sich nach der Bestellung einer neuen Führung nicht mehr fünf oder zehn Jahre zurückziehen und zuschauen. Der Digitalisierungsprozess ist nicht so einfach zu erfassen und zu beobachten wie die Entwicklung der Spendeneinnahmen. Da ist inhaltliche Kontrolle gefragt.

  • Zweitens: Überzeugen, dass in Sachen Digitalisierung hochqualifiziertes Personal die notwendige Erfolgsbedingung ist – und dass man zur Not auch über bisherige Schmerzgrenzen bezüglich Gehaltshöhe hinausgehen muss – um die Zukunftsfähigkeit der Organisation zu sichern! Es nützt ja nichts, das tolle Gehaltsgefüge zu retten und die Organisation sterben zu lassen.

  • Drittens: Beratung beim Aufbau eines kompetenzorientierten Personalmanagements. Das gibt es bisher nur in Ansätzen. Es könnte münden in der Entwicklung von maßgeschneiderten Weiterbildungsprogrammen für einzelne NPOs und einzelne Mitarbeitende. Aber der Bedarf der Branche dürfte viele ähnliche Bausteine beinhalten. Viele große Aufgaben für Talents4Good!

HR- und Szene-News: Wir nehmen die Aufgabe an und danken Ihnen für das Gespräch!